Rezension

YGRG14X: Reading with a single hand

Jetzt habe ich es doch gemacht: Recherchieren. Und nicht weil ich Feuer und Flamme, sondern weil ich angekohlt bin. Ich muss suchen, weil ich sonst nicht urteilen kann. Nach der Recherche war meine Ratlosigkeit über die ästhetischen Qualitäten der Performance die selbe. Aber über eine andere Frage wurde ich mir gewisser. - zu Technologie, Körper, Wissenschaft und Kopf(stand) im Sand.

Datum

04.10.2019

Autor/in

Johanna Failer

Künstlerinnen

Dorota Gawęda und Eglė Kulbokaitė

Ausstellungsort

Schimmel Projects

Ausstellungstitel

YGRG14X: Reading with a single hand VIII

Ausstellungsdauer

11.09. - 22.09. 2019

Fotos

Schimmel Projects

Drei Performer_innen in weiß betreten den schummrigen Galerieraum, in dessen Mitte sich ein Berg aus rotem Sand erhebt. Auf einem weißen Teppich, der die perfekt gezogene Bahn des auslaufenden Sandes rechtwinklig kreuzt, nehmen sie bequeme Posen ein. Die drei erscheinen als Gruppe; zum Teil aneinandergeschmiegt - eine Hand liegt fürsorglich auf des anderen Bein - dabei aber gleichzeitig jede/r für sich, der Außenwelt gegenüber indifferent. Mit den Stirnlampen erinnern sie an Raumfahrer in einer digitalen Marslandschaft, die durchzogen ist von futuristischem Sound.

Warum das, was jetzt kommt, von in den Sand gesteckten Smartphones aufgenommen und während der Performance live auf einem Bildschirm übertragen wird, weiß ich nicht. Eine der Performer_innen hält mit ausgestrecktem Arm ein Handy und beginnt laut zu lesen. Es sind englische Texte, ruhig und verführerisch vorgetragen. Ich schnappe auf, es geht um eine „Young Girl Reading Group“, um Selbstermächtigung durch Lesen, es geht um Lesen als körperliche Praxis, um Erotik, Intimität. Reading with a single hand - eine Hand am Text, eine am Körper.

Die Gefahr an neuen Technologien ist: Es geht dann um Technologien, nicht um den Mensch.

Die Texte sind eigene oder basierend auf Paul B. Preciado. (1) Mit dem Vorlesen wechseln sich die Performer_innen ab, und bei jedem Wechsel wandeln sie im Szenarium und nehmen eine neue Pose ein, die dann für den nächsten Abschnitt gehalten wird. Jede/r scheint mit sich selbst beschäftigt, im Sand liegend oder an die Wand gelehnt. Im Laufe des Geschehens tragen die Wände zunehmende Spuren roten Sandes; ebenso die Kleidung der Performer_innen: kurzärmliges Hemd und ausgefranstes, zum Rock umgenähtes Handtuch, dazu Socken und Flipflops, alles weiß. Wie eine Mischung aus Wellness-Hotel und Arbeitsuniform.
Allein schon in der Kleidung zeigt sich die Polarität, die die gesamte Performance durchzieht: Einerseits das Für-sich-sein, intim wie im Bademantel, auf der anderen Seite aber auch das Dienstleistungstum; sich als Performer und als Nutzer digitaler Medien zu präsentieren und sich seinem Außenbild bewusst zu sein. Das Smartphone bleibt ein Objekt der Vertrautheit und des Komforts: Es beruhigt, nach dem Telefon zu greifen, weil die Geste abkapselt und Zuflucht in einen Privatraum simuliert, obwohl man sich in einem anderem Raum zur Schau stellt - im virtuellen.

Die Performance wird lediglich zum vermarktbaren Produkt einer unvermarktbaren Grundidee

Viel scheint es sich um Internetkultur zu drehen, um Selfies, Selbst und Repräsentation. Die Performer_innen sehen gut aus. Schon wieder so eine neue Körperlichkeit, die schließlich doch auf der Außenseite verharrt und unausweichlich zum Objekt macht? Wider Erwarten ist das nicht der Fall. Wenn Körper und Masturbation im Text auftauchen, ändert das nichts an meinem Blick auf die Performer. Sie lungern still im Raum herum, den Blicken ausgesetzt, aber sie bleiben Subjekte. Vielleicht liegt es an diesem Detail: sie lesen vor. Noch in den unbequemsten Posen, die die Lesenden einnehmen denkt man: Ja, die fühlen sich wohl in ihrem Körper! Keine Bauchschmerzen und keinen steifen Nacken.

Trotzdem frage ich mich, warum es in letzter Zeit so viele Performances gibt, die aus dem grundlegenden Konzept bestehen, junge, hippe Menschen verschiedene Ecken eines irgendwie gestalteten Raumes einnehmen zu lassen, wo sie ziemlich teilnahmslos ausharren und irgendwas mit Handys tun.

Spekulation hin oder her - mein Hauptinteresse gilt dem Versuch der Künstlerinnen, das Lesen als etwas Körperliches erfahrbar zu machen. Wie das aussehen kann, Lesen als körperliche Praxis? Der vorgetragene Text spannt sich wie ein Netz über die Anwesenden, gemischt mit dem Sound und der gemeinsamen seligen Gespanntheit. Man kann manches aufschnappen und es so wie man will auffassen. Die Worte erzeugen in diesem bestimmten Umfeld eine bestimmte Stimmung. Aber wird dadurch der Text nicht austauschbar? Ich glaube nicht. Was mitschwingt ist weniger als das kognitive Verständnis ein gefühltes Verstehen. Aus den wenigen Textpartien, bei denen ich ganz Ohr bin, aus dem gestalteten Umraum und der performten Art des Lesens baut sich ein Gefühl, das zwangsläufig eng mit dem Text verwoben bleibt. Das Gefühl des Textes schwingt mit. Das kann ein wenig oberflächlich erscheinen, aber ein so freier Umgang mit theoretischen Texten ist absolut zulässig. Es geht weniger darum, etwas über den Text zu sagen, als darum, den Text zu hören. Und zwar von verschiedenen Stimmen zu hören. Die verschiedenen Stimmen verdeutlichen die Möglichkeit verschiedener Perspektiven. Deswegen empfinde es nicht einmal als frustrierend, in der Fülle und auf Englisch nicht mal die Hälfte zu verstehen.

Man macht sich mit dem, was man liest, schmutzig.

Zwischendrin sehe ich mir die Szenerie an und schweife ab, bis ich schließlich auf die schmerzenden Beine, auf denen ich knie, zurückgeworfen werde. Dann ist es rum mit meiner Zugänglichkeit. Der Höhepunkt kommt nicht mehr, die Spannung verflüchtigt sich.

Auf dem Nachhauseweg bin ich halb berührt halb ratlos. Prinzipiell begeistert mich Pionierarbeit. Ich fühle mich, als würde ich mitgenommen in die Zukunft - da muss man schon offen und zugänglich sein. Gleichzeitig kann ich, trotz sinnlicher Zugänglichkeit, nicht alles hinnehmen. Ratlosigkeit ruft Skepsis hervor.

Einmal aus der immersiven Erfahrung hinausgetreten beginne ich an meinem eigenen Berührtsein zu zweifeln, als hielte die Arbeit ohne Nebel, blauem Scheinwerfer und Hintergrundmusik nicht mehr zusammen. Es ist nicht, dass ich mit dem Gesehenen nichts anfangen könnte. Es gibt viele Dinge, die mich interessieren, die mich an etwas anderes erinnern oder denen ich kritisch gegenüberstehe. Trotzdem erscheint mir die gesamte Arbeit im Nachhinein auf problematische Weise ungreifbar, als wäre ich verführt worden und wisse nüchtern nicht mehr, warum.

Ich war bei der Performance anwesend, ich war auch auf dem Künstlerinnengespräch. Und doch wurde ich das Gefühl nicht los, gar nicht genug über das langfristig angelegte, multimediale und transdisziplinäre Forschungsprojekt zu wissen, um urteilen zu können. Irgendwie gemein. Also habe ich recherchiert.

... ziemlich teilnahmslos ausharren und irgendwas mit Handys tun.

Ich erfuhr, im Gespräch und aus dem Netz: Entstanden ist die Performance aus der Lesegruppe „Young Girl Reading Group“, die seit 2013 existiert. Über Facebook treten dort Menschen in Kontakt - nicht nur junge Mädchen - um Texte auf eine nicht-akademische, horizontale Weise zu teilen. Es ist wichtig, sich zu treffen und Texte abwechselnd laut miteinander zu lesen. Dorota Gawęda und Eglė Kulbokaitė haben die Reading Group schließlich in mehrere Formate ausgeweitet. „Reading with a single hand VIII“ im Schimmel ist die achte Situation einer je nach Anforderung neu adaptierten Inszenierung. Ortsspezifisch werden die Performer angefragt, die die Künstlerinnen real oder aus den sozialen Medien kennen.

Aufschlussreich ist auch der Zusammenhang mit der Künstlerresidenz „DEAR HUMANS…“ der Kustodie der TU Dresden. (2) Es handelt sich, laut Beschreibung, um ein „langfristig angelegtes Diskurs- und Ausstellungsprojekt der Altana Galerie der Kustodie der TU Dresden zum Themenfeld 'Mensch 4.0‘. Ziel des wissenschaftlich-ästhetischen Pilotprojekts ist die transdisziplinäre Forschungskooperation zwischen Künstler_innen und Wissenschaftler_innen im Themenfeld #Mensch #Maschine #Zukunft #Interaktion #Algorithmus.“
Betont wird der zunehmend stärkere Einfluss von Geistes-, Ingenieur- und Naturwissenschaften auf das Leben in unserer Gesellschaft. Sollen deswegen jetzt Künstler_innen und Wissenschaftler_innen gemeinsame Forschungsfragen entwickeln?

Wenn ich „multimedial“, „transdisziplinär“ und „Forschung“ im Begleittext lese, habe ich oft das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.

Was ich bei der Performance erlebt habe und das, was ich im Künstlerinnengespräch erfahre und später darüber lese klafft weit auseinander. Dabei finde ich das Reading-Group-Projekt von Dorota Gawęda und Eglė Kulbokaitė ausgesprochen spannend: Die Lesegruppe als ein horizontales und transversales Projekt, niederschwellig über Facebook organisiert, digital operierend. Problematisch ist dann wohl die Überführung in den Galerieraum. Die Performance wird lediglich zum vermarktbaren Produkt einer unvermarktbaren Grundidee, und tatsächlich tritt das anpassungsfähige Szenario wie eine Marke auf.

Noch problematischer mag aber die Umdeutung zu einem wissenschaftlichen Forschungsprojekt sein. Was wird hier eigentlich erforscht? Mir kommt es vor, als führe das Wissenschaftlichkeits-Diktat nur zur Bürokratisierung der eigenen Praxis. Durch die Schmückung mit gesellschaftlich anerkannten Feldern - digitaler Technik und naturwissenschaftlicher Forschung - soll Zutrauen in die Kunst entstehen. Genau das Gegenteil passiert. Was soll das? - frage ich mich. Welchen Fremdanforderungen unterwerfen sich hier Künstler_innen und Werke?

Der Höhepunkt kommt nicht mehr, die Spannung verflüchtigt sich.

Es geht in der Ausstellungsreihe um alles mögliche außerhalb der Kunst, seien es Algorithmen, Information, Technologien, politische Forderungen. Die Kunst ordnet sich letztlich den ihr abverlangten Themen unter, statt, wenn es z.B. ein wirkliches technisches Interesse gibt, sich Technologien zu ihrem eigenen Zweck einzuverleiben. Das passiert eher selten. (Die Gefahr an neuen Technologien ist auch oft: Es geht dann um Technologien, nicht um den Mensch.)

In vielen Ausschreibungen für Künstler_innen sind die Inhalte vorgegeben. Je mehr das zutrifft, je gerichteter der Rahmen, desto inhaltsleerer fallen dann oft die Arbeiten aus. Das wundert nicht, man hat sich ja gewissermaßen einen Dienstleister angestellt, jemand, der die eigenen Programmvorstellungen ausfüllt. Zur Zeit ist „multimedial“, „transdisziplinär“ und „Forschung“ angesagt. Wenn ich diese Wörter im Begleittext lese, habe ich oft das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.

Augenscheinlich muss man Künstler_innen dafür motivieren, sich mit Wissenschaft auseinanderzusetzen. Man muss ihnen erklären, was sie davon haben und am Ende muss man auch den Forschungsinstituten erklären, was denen die Kooperation bringt - schöner kann man sich in seiner eigenen Verlegenheit gar nicht offenbaren.

Es geht weniger darum, etwas über den Text zu sagen, als darum, den Text zu hören.

Nach der Recherche war meine Ratlosigkeit über die ästhetischen Qualitäten der Performance die selbe. Aber über eine andere Frage wurde ich mir gewisser: Warum soll ich erst urteilen können, wenn ich alles über das Projekt weiß? Es geht doch in der Kunst um fühlen, um ein zugleich sinnliches und geistiges Erleben. Warum die theoretische, kognitiv erfahrbare Seite so überzeichnet wird?
Die gute alte Legitimationskrise...

Bleibt die Erinnerung an den roten Dreck an der Wand. Und an die weißen Handtücher. Man macht sich mit dem, was man liest, schmutzig. Man färbt ab. Eine schöne Einladung! Auch das ruhige Vorlesen in unbequemen Körperhaltungen, Kopfstand im Sandberg zum Beispiel - das ist ein Bild, das ich mitnehme. Die Beschäftigung mit Theorie kann über all den Schlamassel erheben, in den wir uns bei Zeiten verstrickt finden. Standhaftigkeit durch Lesen oder andere Praktiken der Vertiefung. Auch das nehme ich mit. Und danke den Künstlerinnen und Organisator_innen dieser Ausstellung. Ganz besonders aber danke ich den Schimmel-Projects, die sich mit dieser letzen Ausstellung verabschieden. Zwei Jahre hochmotivierte, sorgfältige Arbeit haben die Kunstszene in Dresden reicher und belebter gemacht. Große Anerkennung!

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Dorota Gawęda (1986, Lublin, PL) und Eglė Kulbokaitė (1987, Kaunas, LT) sind ein 2013 gegründetes Künstlerinnenduo mit Sitz in Basel (CH). Sie sind Absolventinnen des Royal College of Art, London (2012) und Gründerinnen von YOUNG GIRL READING GROUP (2013). Gawęda und Kulbokaitė haben international ausgestellt (Lafayette Anticipations, Paris; HKW, Berlin; 6. Athen Biennale; Palais de Tokyo, Paris; MOMA, Warschau; ICA, London; MMOMA, Moskau; Berlin Biennale 9). Quelle
Website der Künstlerinnen
Young Girl Reading Group

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(1) Paul B. Preciado, geboren 1970 in Burgos, Spanien, ist Philosoph und einer der führenden Denker der Geschlechter- und Sexualpolitik. Sein erstes Buch, Kontrasexuelles Manifest wurde zu einer Schlüsselreferenz für europäischen Queer- und Transaktivismus.

(2) Die Art Science Labs »DEAR HUMANS, …« sind ein Projekt mit Forschungskooperationen der Kustodie der TU Dresden und ein Leitprojekt der Bewerbung Dresdens um den Titel Kulturhauptstadt Europas 2025. In Kooperation mit Schimmel Projects Art Centre Dresden und dem Kulturhauptstadtbüro Dresden 2025. »DEAR HUMANS, …« wird von der Ostsächsischen Sparkasse Dresden und dem Bereich Geistes- und Sozialwissenschaften der TU Dresden gefördert.
Konzept: Gwendolin Kremer und Konstanze Schütze in Zusammenarbeit mit Rasmus Roos Lindquist, Josefine Schulz und Max Stühlen. link

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