Essay

Was ist Humanismus?

Dies ist die stark gekürzte Fassung einer Lecture Performance, die im Rahmen von Lisa Maria Baiers Ausstellungsprojekt „Kunst für Humanismus“ gehalten wurde. Auch wenn die performative Dimension des Textes dadurch verloren geht, möchten wir seine Kerngedanken auf diese Art und Weise zum Nachlesen zugänglich machen.

Datum

27.08.2019

Autor/in

Mihael Švitek

Fotos

Lisa Maria Baier

Ort

Kunsthalle Lipsiusbau

Veranstaltung

Kunst für Humanismus

Veranstaltungsdatum

05.08.2019

Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd

Was ist Humanismus?

Es gibt grundsätzlich drei verschiedene Arten von Antworten auf diese Frage: Die linguistische, die historisch-semantische oder die performative Antwort.

Die linguistische:
„Humanismus“ ist ein Wort. Humanismus ist ein Wort mit genau zehn Buchstaben, also ein Dekagramm. "Humanismus" wird gebildet aus „Human“ und „ismus“ – Ein Ismus unter den vielen, die uns unentwegt mit ihren Wahrheiten plagen? Liberalismus, Kapitalismus, Sexismus, Fanatismus, Rassismus, Idealismus, Anarchismus...

Im Vergleich dazu ist der Humanismus geradezu altehrwürdig, war schon lange vor ihnen da. Humanismus ist eine Ableitungen des lateinischen "humanitas", was sich ganz simpel mit "Menschheit" übersetzen lässt. Erstmals von Humanitas gesprochen wurde von dem römischen Komödiendichter Terenz im Jahr 163 v.u.Z., dessen Worte uns auch heute noch geläufig sind: „Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd.“

Im alten Rom bezeichnet Humanitas Normen und Verhaltensweisen, die den Menschen ausmachen.

Was aber bezeichnet das Wort Humanismus?

Die Brockhaus-Enzyklopädie definiert Humanismus in seiner allgemeinen Bedeutung als „das Bemühen um Humanität, um eine der Menschenwürde und freien Persönlichkeitsentfaltung entsprechende Gestaltung des Lebens und der Gesellschaft“, und zwar „durch Bildung und Erziehung und/oder Schaffung der dafür notwendigen Lebens- und Umweltbedingungen selbst“.
Der Duden fasst ihn als „Denken und Handeln im Bewusstsein der Würde des Menschen; als Streben nach Menschlichkeit“.

So weit, so Blabla. Wenn wir Humanismus mit Menschlichkeit oder Humanität übersetzen, ist nichts gewonnen, denn was bedeutet dann Menschlichkeit oder Humanität? Statt im Kreis zu definieren, wollen wir uns fragen: Was wollten uns denn die Leute wirklich damit sagen?

Ein Universalmensch im Sinne des Humanismus ist vielseitig gebildet, aufgeschlossen und unabhängig von kirchlichen Dogmen.

Als Humanismus wird zunächst eine kulturelle Bewegung im 14. bis 16. Jahrhundert in Europa bezeichnet, die auf dem Studium der antiken Literatur und Kunst fußt - der sogenannte Renaissance-Humanismus.

Damals wurde versucht, so etwas wie den Universalmenschen zu schaffen. Ein Universalmensch im Sinne des Humanismus ist vielseitig gebildet, aufgeschlossen und unabhängig von kirchlichen Dogmen. Er ist schöpferisch tätig und lebt idealerweise in Harmonie mit der Natur. Der damalige Humanismus basiert vor allem auf Text: Der Mensch soll durch lehrreiche Bücher dazu angeleitet werden, seine Potentiale voll auszuschöpfen, an sich zu arbeiten und verkommene und somit schädliche Gewohnheiten und Überzeugungen aufzugeben. Er soll danach streben, sich zu vervollkommnen, ein „wahrer Mensch“ zu werden. Genau das meint Bildung: Der Mensch soll sich selbst schöpfen, herstellen, sich formen. Englisch "building" und deutsch "Bildung" sind sich nicht umsonst ähnlich:

Durch planmäßiges Vorgehen soll eine Struktur geschaffen werden, die den Widrigkeiten der Umwelt standhält.

Nicht zuletzt soll dem Menschen durch Schrift die Barbarei ausgetrieben werden, die wilden und oft unschön aufbrausenden Aspekte seines Naturells sollen gezähmt und in ruhige und harmlose Bahnen gelenkt werden.

Wenn ich von diesem Humanismus spreche, muss ich auch von Thomas Morus sprechen, der uns das schöne Wort "Utopie" geschenkt hat. In dem 1516 erschienenen philosophischem Dialog gibt der Erzähler an, er habe bei seinen Reisen als Seemann eine Insel entdeckt, die Utopia heißt. Dort leben die Menschen in einer idealen Gesellschaft ohne Privateigentum, es herrscht Religionsfreiheit, Bildung ist für alle offen zugänglich, jeder und jede arbeitet für die Gemeinschaft. Sogar Sterbehilfe ist dort erlaubt.

Aus heutiger Sicht wirkt Utopia aber auch recht düster: Es gibt dort nirgends Möglichkeit zum Müßiggang, keinen Vorwand zum Faulenzen, keine Weinstube, kein Bierhaus, keine Gelegenheit zur Verführung, keine Spelunken, kein heimliches Zusammenhocken, sondern überall sieht die Öffentlichkeit einem zu und zwingt ihn zu der gewohnten Arbeit. Die beliebteste Freizeitaktivität der Utopier ist der Besuch von wissenschaftlichen Vorträgen. Auf Ehebruch steht Sklaverei und Zwangsarbeit. Hört sich heute nicht mehr sehr humanistisch an.

Er bezeichnete alle, die damals Rang und Namen hatten, als Idioten

Ich muss auch von Erasmus von Rotterdam erzählen, der heute fast nur noch als Namensgeber für humanistisch angestrichene Selbsterfahrungstrips westeuropäischer Mittelstandskids bekannt ist. Zur gleichen Zeit wie Utopia, also um 1500 herum, erschien von Rotterdams „Lob der Torheit“, in der er mit rhetorischer Eleganz den damaligen Gelehrten, Fürsten, Pfarrern, Adligen und Mönchen eine lange Nase dreht, indem er durch mutwillig falsch auslegte Zitate aus Dichtung, Philosophie und Theologie ihre Dummheiten und Laster als erstrebenswert darstellt. Einfach gesagt: Er bezeichnete alle, die damals Rang und Namen hatten, als Idioten. Er hat es mit seinem Werk trotz der damals noch vorherrschenden Inquisition geschafft, Kirche und Christen so zu kritisieren, dass er dafür nicht belangt werden konnte, da nicht er, sondern nur die Torheit die Rede hält – vor allem beeindruckend deswegen, weil ihm bei einem Fehlschlag Folter und Tod gedroht hätten.

Unbedingt muss ich auch von François Rabelais erzählen, der Mitte des 16. Jahrhunderts fünf dicke Erzählbände veröffentlicht, die unter dem Namen "Gargantua und Pantagruel" bekannt werden. Alleine die ersten beiden Bände stecken voller Geschichten, die an Vulgarität und Obrigkeitsverachtung kaum zu überbieten sind.

Der Riese Gargantua wird nicht wie gewöhnliche Kinder geboren

Stattdessen erblickt er nach elf Monaten durch das linke Ohr seiner Mutter das Licht der Welt. Da gerade ein Trinkgelage in vollem Gange ist, sind seine allerersten Worte: „Trinken, trinken, trinken.“ Und da der Junge sehr großen Durst hat, lässt man 17 913 Kühe bringen, an deren Milch er sich labt. Noch bevor er zwei Jahre alt ist, trinkt er täglich grundlos fässerweise Wein – naja, nicht wirklich grundlos, denn wenn er ärgerlich, erbost, trübsinnig oder zornig wird, ist Wein das einzige, das ihn beruhigen kann.

Im Alter von fünf Jahren hat Gargantua schon unzählige Arten ausprobiert, sich den Hintern abzuwischen, ist aber schlussendlich darauf gekommen, dass das gar nicht immer nötig sei. Wenn doch, sei ein junges Gänschen besonders geeignet, denn es nehme den Dreck am besten weg und sei dabei noch flaumig und weich. Da sich Gargantua in dieser Frage als sehr schlau erwiesen hat, wird er zum weiteren Unterricht nach Paris geschickt. Als er dort auf seinem riesigen Pferd ankommt, wird er von den Einwohnern verwundert angestarrt und bedrängt. Daraufhin setzt er sich auf die Türme von Notre Dame, macht seine Hose auf und pullert was das Zeug hält. In den Urinfluten ertrinken 260 418 Stadtbewohner – Frauen und Kinder nicht mit eingerechnet. Dann pflückt er sich die Glocken von Notre-Dame als Schellen für sein Pferd und widmet sich fortan seinen Studien.

Sie kennen weder Not, Krankheit noch Krieg

Jonathan Swift ließ in seinem ebenfalls überspitzt-satirischen Werk "Gullivers Reisen" von 1726 eine Szene aus dem Gargantua-Pantagruel-Zyklus auferstehen: Sein Held Gulliver löscht im Lande Lilliput eine Feuersbrunst, indem er die Flammen auspinkelt. Aber obwohl die Geschichten aus Lilliput und aus Brobdingnag, also Gullivers Aufenthalte bei den Winzlingen und bei den Riesen, die bekanntesten sind, ist Swifts Beschreibung von dem Reich der Houyhnhnms aber ungleich schöner. Die Houyhnhnms haben die Gestalt von Pferden, sind aber trotz ihres tierischen Aussehens den Menschen ungleich überlegen:

Sie kultivieren die Vernunft, Freundschaft und Güte sind ihre höchsten Tugenden. Sie verwenden keine Schrift und haben in ihrer Sprache kein Wort zum Ausdruck des Bösen. Sie kennen weder Not, Krankheit noch Krieg. Sie können nicht lügen. Als Gulliver ihnen von den Zuständen in Europa berichtet, verstehen sie nicht, wie man so überhaupt leben kann. Die Houyhnhnms sind die besseren Menschen.

Als Gulliver zurückkehrt, ist er von seiner Familie angeekelt und verbringt viel Zeit mit seinen Pferden.

All diese Werke des Renaissance-Humanismus verbindet eine ironische Kritik am Zeitgeist und am Menschen, so wie er ist.

Die Thematisierung der menschlichen Schwächen nimmt einen prominenten Platz ein, sie wird aber immer begleitet vom Glauben daran, dass der Mensch zu mehr fähig ist, als es ihm die momentanen Umstände gestatten. Ein weiteres häufiges Motiv ist das der Reise: Die Figuren finden sich oft in ganz seltsamen Ländern, auf weit entlegenen Inseln oder gar in der Hölle wieder, wo alles anders ist und wo sie in Anbetracht der Neu- und Andersheit erst verstehen, dass ihre eigene Welt und ihre eigenen Gewohnheiten und Sitten nicht der Weisheit letzter Schluss sind. Natürlich ist die Reise auch ein Metapher für die Reise durch das Leben.

Im 18. und 19. Jahrhundert (Aufklärung) nimmt der Humanismus Fahrt auf und alle großen Gelehrten berufen sich auf ihn.

Goethe, Schiller, Hölderlin, alle denken sie über den Menschen nach.

Jean-Jacques Rousseau vertritt in seiner Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen einen Ansatz, der dem Renaissance-Humanismus widerspricht. Er ist nämlich nicht fortschrittsoptimistisch; er ist statt dessen radikal geschichtspessimistisch und zivilisationskritisch. Ausgehend von einem hypothetisch gesetzten harmonischen Urzustand der Menschheit in ihren frühesten sozialen Gemeinschaften, beschreibt er den allgemeinen Zivilisationsprozess gerade nicht als stete Aufwärtsentwicklung in ein endliches säkulares Paradies allgemeiner menschlicher Vernunft, Tugend und Humanität. Der Gang der Zivilisation ist vielmehr ein unumkehrbarer Verfallsprozess ursprünglichen Glücks

Er geht einher mit dem Verlust aller individuellen, ideellen und sozialen Homogenität, Einheit, Ganzheit und Harmonie. Rousseau geht also den entgegengesetzten Weg: Der „echte Mensch“ sei der „edle Wilde“, unbeleckt von den unnatürlichen Einflüssen der Bildung und den seltsamen Sitten und Bräuchen der Gesellschaft. Aber im Prinzip vertritt Rousseau keine andere Position als der alte Humanismus, bloß mit umgekehrten Vorzeichen.

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde es ganz still um den Humanismus.

Was konnte man nach den Verheerungen der Weltkriege auch schon Gutes über die Menschlichkeit sagen? Erst einmal musste man den Menschen auf den blutverkrusteten Boden der Tatsachen zurückholen.

Im Jahr 1945 veröffentlich Jean-Paul Sartre den Aufsatz „Der Existentialismus ist ein Humanismus“, in dem er die Thesen seines Hauptwerks „Das Sein und das Nichts“ zu popularisieren versucht. Er verquickt seinen Existentialismus mit dem Humanismus, indem er sagt: „Der Mensch muss erst werden, was er ist.“ Dabei kann ihm aber niemand helfen, der Mensch ist zu radikaler Freiheit verurteilt und selbst verantwortlich für das, was er ist und was er schafft. Der Mensch, wie ihn der Existenzialismus versteht, ist nicht definierbar, weil er zunächst nichts ist. Er wird erst dann, und wird so sein, wie er sich /ge/schaffen werden wird. Es gibt für Sartre keine Handung, die nicht auch gleich den Menschen hervorbringt, wie er sein soll. Jeder ist für sich selbst und für alle verantwortlich, denn durch unsere Handlungen schaffen wir wählend ein bestimmtes Bild vom Menschen.

Der Mensch ist in jedem Augenblick, ohne Halt und ohne Hilfe, dazu verurteilt, den Menschen zu erfinden.

Keinerlei allgemeine Moral kann ihm einen Hinweis geben, was zu tun ist, denn es gibt keine Zeichen in der Welt, es gibt sie nur in uns selbst und wir sind für ihre Deutung verantwortlich. Der Mensch ist für Sartre nichts anderes als eine Reihe von Unternehmungen, die Summe der Gestaltung, die Gesamtheit der Beziehungen, die diese Unternehmungen ausmachen. So ist auch die Universalität zwischen den Menschen nichts, was ihnen von Geburt an zukommt, sondern etwas, was jedes Mal neu erschaffen wird. Der Mensch verwirklicht sich aber nicht durch eine Rückwendung auf sich selbst, sondern durch die ständige Suche eines Ziels, das außerhalb der Subjektivität liegt. Die Dinge werden so sein, wie der Mensch beschlossen haben wird, dass sie sein sollen und wenn die Menschen sich für den Faschismus entscheiden, dann ist das umso schlimmer für uns, und wir können nicht wissen, ob wir den Faschismus verhindern können, aber wir können alles in unserer Macht stehende tun, um ihn zu verhindern. Darüber hinaus kann man sich auf nichts verlassen, so Sartre.

Der Mensch als Hirte des Universums. Kryptisch, aber irgendwie auch ziemlich schön.

Ausgerechnet Martin Heidegger ist der letzte große Vertreter eines prägenden Humanismus-Begriffs. In seinem Humanismusbrief von 1946 kritisiert er, dass der Mensch nur als ein Lebewesen unter anderen gedacht werde, in Abgrenzung gegen Pflanze, Tier und Gott. Der Mensch sei aber etwas völlig anderes: Er ist nicht nur ein Lebewesen, das neben anderen Fähigkeiten auch die Sprache besitzt, vielmehr ist die Sprache das Haus des Seins, worin der Mensch wohnt und die Wahrheit des Seins hütet. Die Sprache als Totalität der Bezeichnung für schlichtweg alles, was es überhaupt gibt und der Mensch als einziges Wesen, das diese Totalität überhaupt erkennen kann, weil die Sprache seine einzige Heimat ist. Der Mensch als Hirte des Universums. Kryptisch, aber irgendwie auch ziemlich schön.

In den 60ern und 70ern werden die Begriffe Humanismus und Mensch komplett durch den Reißwolf gejagt. Der Humanismus wird in Jean-François Lyotards Philosophie komplett in Frage gestellt, und zwar durch den Begriff des Inhumanen. Lyotard lehnt den Humanismus mit der Begründung ab, dass er von einer Definition des Menschen abhängt, und Definitionen schließen Differenzen und Abweichungen per se aus. In uns schlummert laut Lyotard nämlich eine „unendlich geheime Inhumanität“, deren „Geisel“ die „Seele“ sei. Dieses Inhumane trägt bei Lyotard den Namen der Kindheit und meint eine unbestimmt offene Passivität: Sprachlos, unfähig zu einer vernünftigen Äußerung, zu vernünftigen Gedanken, zu einer profitablen Berechnung oder zur Fixierung eines Interesses, dafür allein zu Empfindungen fähig und somit vollkommen eingetaucht in die Welt vorbewusster Affekte.

Jacques Derrida dagegen steht nackt vor seiner Katze und schämt sich

Michel Foucault beendet „Die Ordnung der Dinge“ in einer typischen Foucaultgeste mit dem Satz: „Man kann sehr wohl wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht am Strand“. Er sieht keine Hoffnung für das Subjekt, zu einem '“wahren Menschen'“ zu werden, da es Effekten der Sprache, der Macht, der Regulierung vollkommen ohnmächtig gegenüberstehe.

Jacques Derrida dagegen steht nackt vor seiner Katze und schämt sich und dann schämt er sich dafür, dass er sich schämt und stellt sich dann nicht nur die fundamentale Frage, was der Mensch, sondern auch, was das Tier sei. Er fragt sich außerdem, was den Menschen vom Tier trennt, spürt dieser Trennung genauer nach und fragt sich dann, ob der Mensch nur Mensch sein könne durch den Blick auf das Tier, was ihm erst Möglichkeit gibt, das sprachlose Tier zur definitorischen Kontrastfolie des Menschlichen zu machen. Er beantwortet diese Fragen mit einem eindeutigen: „Vielleicht...?

Es sagte einmal jemand: Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.

Das stimmt natürlich nicht. Gerade über die Dinge, die man nicht klar sagen kann, muss man am meisten reden – müsste man am meisten reden. Über Humanismus, über alte Verletzungen, über das Leid der Tiere, über die seelenverkrüppelnde Lohnarbeit, über traumatische Erlebnisse, über die ewigen Eltern, über unsere Angst, alleine zu sein, über die scheiß Nazis, über den echten Krieg, der immer irgendwo ist und über die Angst davor, dass der Krieg zu uns kommt oder wir zu ihm. Und wir müssten über den Krieg reden, der in uns und um uns ist, der Krieg, den wir jeden Tag führen, der Krieg gegen die Umstände, gegen die verdammten Handys, gegen den fucking Staat, gegen die Menschen, die wir lieben. Und über den Krieg gegen uns selbst, der Krieg gegen unsere Körper, gegen unsere Vergangenheit, gegen unsere widerspenstigen Haare, über den ewigen Krieg zwischen Männern und Frauen und den verzweifelten Krieg der queeren Uneinheitsfront gegen alle, die es nicht verstehen.

Wir führen unsere meisten Kriege mit Worten, wir führen aber auch Krieg um Worte

Worte lassen sich besetzen, so wie sich geographische Territorien besetzen lassen. Worte können okkupiert werden. Volk. Heimat. Identität. Alternative. Worte können ihre Konnotation wahnsinnig schnell ändern. Mittelmeer. Schlauchboot.

Was sich sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen. Über Humanismus lässt wohl nichts Klares sagen. Also muss ich wohl von etwas anderem sprechen. Vielleicht vom Schweigen.

Beim Durchschreiten der felsigen und kahlen Vorgebirge des Verlusts und der eigenen Schuld be- gann alles um mich herum auseinanderzufallen: Mein Geist, meine Absichten, mein Wille – meine Sprache. Also geriet ich in eine tiefe und lange Depression und begann, über das Schweigen und über die Seele nachzudenken. Vielleicht muss die Seele erst zersplittern, damit man bemerkt, dass man überhaupt eine hat. Mit einem Mal fand ich christliche Mystik und das Schweigen interessant. Das macht wohl Schmerz in biblischem Ausmaß mit einem.

Doch wen die Götter nicht sofort vernichten wollen, dem schenken sie die Kunst.

Nun stehe ich also hier, mit meinem Körper inmitten von Kunst, mit meinem Geist in den Ruinen der humanistischen Literatur und versuche, die Welt aufs Neue zu entziffern. Jedes geschriebene Wort ist ein Brief. Geduld.

Worte trösten uns, so gut sie eben können, über die kosmische Leere und die Sinnlosigkeit der Existenz hinweg. Sie schaffen Ordnung im Chaos des Daseins, was wiederum zum Problem werden kann, da die Ordnung prekär ist und jederzeit zusammenbrechen kann. Sollen wir also lieber schweigen? Doch ob wir reden oder schweigen: Wir Menschen können uns nicht nicht weh tun. Wir Menschen müssen reden. Wir können nicht anders. Auch wenn es weh tut, zu reden, es tut vermutlich nicht so sehr weh, wie zu schweigen. Schweigen kann unerträglich sein. Noch unerträglicher ist es, angeschwiegen zu werden.

Am Ende des Tages kämpfen wir um nichts anderes als um Symbole.

In Zeiten der Krise lechzen wir Menschen nach Symbolen, die uns Orientierung geben. Das können Wörter sein, oder Menschen oder Konzepte. Für die einen ist es die Demokratie, für die anderen die Familie, für die nächsten die Nation. Für uns heute heißen diese Symbole Kunst und Humanismus.

Nur so lässt sich die weltweite Anteilnahme am Brand eines uralten Bauwerks erklären. Die brennende Kathedrale im Herzen der Hauptstadt der Liebe. Natürlich ist das kitschig. Aber mich hat diese hypermoralistische Empörung über die Trauernden etwas verstört. „Es sind doch nur alte Steine, was ist denn mit den Obdachlosen, was ist mit den verhungernden Kindern in Afrika“. Dieser Whataboutism geht mir auf den Sack. Symbole sind wichtig und wir dürfen sie nicht hergeben. Wenn Notre Dame nur alte Steine sind, dann ist Humanismus nur ein Wort mit zehn Buchstaben und der Mensch nur eine Ansammlung von Sauerstoff-, Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen.

Wir müssen auf sie aufpassen. Am Ende des Tages kämpfen wir um nichts anderes als um Symbole. Ohne sie sind wir verloren.

Vom klassischen Humanismus hat man derweil schon lange nichts mehr gehört, stattdessen wird heute von Transhumanismus oder Posthumanismus gesprochen. Nächstes Jahr schreiben wir das Jahr 2020 – das klingt schon so nach Science Fiction. Alles ändert sich, mal wieder. Die Geschlechter sind aufgelöst, die großen Erzählungen sind zu Ende, das Zeitalter des Digitalen ist da schmirgelt alle alten Gewohnheiten hinweg. Und wie steht es um den Menschen?

Das, was uns im humanistischen Sinne zu Menschen macht, bleibt auf der Strecke

Die Philosophin Donna Haraway hält schon 1985 nicht nur die Unterscheidung der Geschlechter für ungewiss, sondern auch diejenige zwischen Mensch, Maschine und Tier. Die herkömmliche Unterscheidung zwischen Natur und Kultur oder Menschen und Dingen ist nicht mehr aufrechtzuerhalten, da die Menschen immer mehr mit ihren technischen Gadgets verschmelzen und somit Cyborgs generieren. Diese Vermischungen seien nicht zu beklagen, vielmehr solle man sich daran machen, das Durcheinander aller Grenzen zu genießen.

Der farbenblinde Künstler Neil Harbisson ließ sich bereits 2004 im Alter von 22 Jahren eine Antenne in seinen Kopf implantieren: eine Art metallener Fühler, der am Hinterkopf im Schädel verankert ist und sich nach vorne über die Stirn biegt. An dessen Ende hängt eine kleine Kamera, auch »Eyeborg« genannt, die Lichtwellen auffängt und die Frequenzen in Form von Vibrationen an das Gehirn weitergibt. 360 Farbtöne kann Harbisson so an ihren unterschiedlichen Wellenlängen erkennen und die Sättigung der Farben an der Intensität der Vibrationen ablesen. Da er auf seinem britischen Pass mit seinem Gerät abgebildet ist, gilt Harbisson als erster von einer Regierung anerkannter Cyborg.

Der Mensch versucht also auf andere Arten, sich zu retten, mit den Mitteln der Technik. Nur leider verkennt er dabei, dass dasjenige, was ihn im humanistischen Sinne zum Menschen macht, auf der Strecke bleibt.

Die kurzfristigen, dopamingesteuerten Feedbackschleifen, die wir geschaffen haben, zerstören das Funktionieren der Gesellschaft.

Das Internet verletzt unsere Seelen. Das Internet ist natürlich auch ein Ort unendlicher Wunder. Wir können all den Menschen, die wir jemals getroffen haben, jederzeit schreiben oder sie jederzeit auf unseren Bildschirmen herumwackeln sehen.

Einer der Facebookgründer sagte vor zwei Jahren: "Die kurzfristigen, dopamingesteuerten Feedbackschleifen, die wir geschaffen haben, zerstören das Funktionieren der Gesellschaft. Kein ziviler Diskurs, keine Kooperation, Fehlinformation, Irrtum." Er erklärte, dass bei der Entwicklung von Facebook das Ziel war: so viel Zeit und bewusste Aufmerksamkeit wie möglich zu verbrauchen. Es war diese Denkweise, die zur Entwicklung von Funktionen wie dem "Like"-Button führte, der den Nutzern einen kleinen, berechneten Dopaminschub beschert, um sie zu ermutigen, mehr Inhalte hochzuladen. "Es untergräbt die grundlegenden Prinzipien des Verhaltens der Menschen unter- und miteinander."

Unterdessen wird in den Laboren nach der Unsterblichkeit gesucht. Transhumanismus, die Überwindung des Menschlichen. Der kalifornische Firma Intervene Immune ist es gelungen, bei neun freiwilligen Probanden das biologische Lebensalter um zweieinhalb Jahre zurückzudrehen. Mit einem Substanzcocktail wurde der Thymus der Probanden reaktiviert, sodass er wieder Immunzellen produziert. Eine Versuchsperson, die bereits ergraut war, bestätigte gegenüber ZEIT online, dass ihr dunkle Haare nachgewachsen seien. Hat die Johannesoffenbarung also doch recht? Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.

Wartet Gott auf dem Boden eines Reagenzglases auf uns?

Wie naiv. Als ob Unsterblichkeit die Lösung für überhaupt etwas ist. Wir hätten gerne, dass es leicht ist, ein guter, ein wahrer Mensch zu sein. Das ist es aber nicht. Es ist vielmehr unmöglich. Niemand kommt unschuldig davon: Sobald man einen Supermarkt betritt, hat man verloren.

Wie ihr seht, habe ich keine wesentlich neuen Gedanken anzubieten, keine Antworten, höchstens ein paar neue Fragen – oder auch, alte Fragen neu gestellt, denn die Geschichte des Humanismus ist eigentlich eine konstante Reformulierung der gleichen Grundfragen:

Wer bin ich?
Was ist der Mensch?
Ist noch Rettung möglich?

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