Kommentar

Bitte Nichts zum Anfassen

Gehen durch neue Techniken künstlerische Fähigkeiten verloren? Wie sieht künstlerische Arbeit aus, die nicht mehr am Material stattfindet? Gibt es Kunst ohne Handwerk?

Datum

01.06.2019

Autor/in

Elise Beutner

Die Fensterfront in der Belfast School of Art ist sonnendurchflutet. Wenig von dem Licht dringt in das Labyrinth aus abgetrennten Kojen, in denen die Studenten arbeiten. Was der Fakultät für Kunst und Design an Arbeitsplatz fehlt, macht sie durch exzellent ausgestattete Werkstätten wett.
Ich werde von Ralf Sander, der den akademischen Rang des »Readers« an der Universität innehat, herumgeführt.
Schon in der Metallwerkstatt staune ich angesichts monumentaler Fräs- und Schneidemaschinen, über deren genaue Funktionsweise ich nur mutmaßen kann. Während die großzügigen Grafikwerkstätten noch verhältnismäßig gut besucht waren, ist hier kaum jemand. Die Werkstatt für Guss- und Abformtechniken ist wie ausgestorben, die modernsten Abzugshauben stehen still, und nur drei brandneue 3D-Drucker drucken emsig und einsam vor sich hin.

Niemand will noch mit Material arbeiten.

Als ich die herausragende Qualität der Werkstätten kommentiere, sagt der Reader: »Tja, aber kaum jemand benutzt sie. Ich verstehe nicht warum, aber das Handwerk verkümmert. Niemand will noch mit Material arbeiten.«
Ich sehe mich um. Zwar sind durchaus einige Keramiken und Grafiken zu sehen, die in den Werkstätten der beiden obersten Etagen entstanden sind – aber ich verstehe auf den ersten Blick, was er meint. Found Footage everywhere. Zusammengebundene Zweige, mit Kunstharz verzierte Möbel vom Sperrmüll. Ausgedruckte Ergebnisse unzähliger Google-Bildersuchen.

Bevor ich mich frage, ob ich ihm zustimme, verspüre ich zuerst den Drang, die Studenten und mich selbst zu rechtfertigen. Bedroht die Digitalisierung das künstlerische Handwerk? Den Malern, Grafikern und anderen traditionellen Medien wird nachgesagt, dass sie stets eine Klientel finden können, die sie über Wasser hält. Die Medienkünstler wären diejenigen, die sich wirklich für ihre Arbeit am Puls der Zeit opferten. Meine impulsive Rechtfertigung, warum immer mehr Kunststudenten dem Material aus dem Wege gingen, umfasst drei Argumente:

1. Als zeitgenössischer Künstler muss man die digitale Welt bearbeitet haben, um nicht anachronistisch, ja sogar ignorant zu sein.

Unser aller Wirklichkeit konstruiert sich aus den Seherfahrungen, die wir jetzt zum großen Teil im Digitalen machen, und nur durch bewusste Auseinandersetzung damit kann der Künstler sich der digitalen Realität bewusst werden und seine gesellschaftliche Spiegelfunktion erfüllen. Man kann sagen, für einen Digital Native wäre der Videoschnitt so essentiell zu erlernen wie für die vorherige Generation die Fotografie, und die davor das Aktzeichnen. Wer nicht erfahren hat, wie man nach acht Stunden Videoschnitt durch die echte Welt taumelt und verzweifelt versucht, alles ein paar Frames zurückzudrehen, hat nicht gelebt.

2. Früher war etwas teuer, weil es schwer zu beschaffende Ressourcen benötigte. Heute ist etwas teuer, weil man den Platz bezahlen muss, um es aufzubewahren.

Wie reich jemand ist schlägt sich nicht mehr nieder in der Quantität seiner Besitztümer, sondern wieviel Platz er ihnen in der urbanen Gentrifizierungshölle sichern kann. Mein einziger gültiger Mietvertrag ist für einen Container auf einem Hafengelände. Er beinhaltet: Leinwände aus den ersten Studienjahren, zusammengerollt oder aufgespannt, Keilrahmen über Keilrahmen, sperrige Plexiglaswände und ein Arsenal an Bilderrahmen, Zeichnungen, um deren Wohlergehen ich jeden Winter aufs Neue fürchte. Aber einen klimatisierten Lagerraum zu bezahlen, kommt für uns, die wir mit 30 noch in genauso engen WG Zimmern hausen wie mit 18, nicht in Frage.

3. Wir, die Millenials, leben in einer anderen Welt.

Handwerk braucht Material, aber unsere Leben sind so flexibel und durchdigitalisiert, dass jedes Gramm Ballast sich zeitweise wie eine Zumutung anfühlt. Erfolg wird vor allem gleichgesetzt mit internationaler Präsenz. Wir schicken unsere Portfolios um die Welt, rackern uns ab, um an einer drittklassigen Begleitveranstaltung einer namhaften Kunstmesse teilzunehmen, und zwar einzig und allein für die dazugehörige Zeile in der Vita. Jungen Künstlern wird auf wirtschaftlicher Ebene ein Maß an Leidensfähigkeit und persönlicher Aufopferung abverlangt, über das so ziemlich jeder andere Studiengang den Kopf schüttelt. Unser Leben ist schon eine Herausforderung, ohne dass man neben dem eigenen Flugticket auch einen Kunsttransport bezahlen muss. Mit einem USB-Stick und einem vor Ort erflirteten Leih-Beamer hat man wenigstens ein bisschen was gespart im Vergleich zu denen, die ihren 2x2m Ölschinken über den Atlantik hieven müssten, um an jene Zeile im CV zu kommen. # Mein Gepäck für unsere Ausstellung in Belfast umfasst: Laptop, USB-Stick, Ersatz-USB-Stick, externe Festplatte. Und Gaffer Tape. Nirgendwohin ohne Gaffer Tape.

Kein seriöser Forscher kann konkrete Aussagen darüber treffen, wie die Digitalisierung das menschliche Gehirn verändern wird

Es ist eine legitime Sichtweise, dass die Digitalisierung die Kunst natürlich nicht aussparen wird und zu ihrer Genese dazugehört, um welchen Preis auch immer. Künstler haben sich immer der neuesten verfügbaren Techniken bedient. Kulturtechniken halten nicht ewig, sie kommen und gehen seit der landwirtschaftlichen Revolution. Ich z.B. kann nicht Klöppeln, keine Tierkadaver ausweiden, keine Fahrräder reparieren, keinen Keuschheitsgürtel anlegen, nicht im Damensattel reiten – Die Liste von Kulturtechniken, die ich nicht beherrsche, ist unendlich. Die Liste der Fähigkeiten, die ich halbwegs beherrsche, ist dagegen unglaublich kurz. Und sie ist vollkommen gebunden an meinen bescheidenen Ausschnitt in der Weltgeschichte. Warum ist das überhaupt einen Artikel wert? Warum sollte Bronzeguss, Keramik und analoge Fotografie nicht genau so aussterben wie die Postkutsche?

Vielleicht lohnt es sich, zu dieser Frage einen Exkurs in die neurologische Forschung zu machen: Kein seriöser Forscher kann konkrete Aussagen darüber treffen, wie die Digitalisierung das menschliche Gehirn verändern wird. Ebenso ungeklärt, wenngleich auch Gegenstand vieler Forschungen, ist es, wo genau im Gehirn Kreativität entsteht. Keiner weiß so genau, welche Physiologie originelle Einfälle und neue Verknüpfungen fördert.
Was wir relativ genau wissen: Alle Erwachsenen, seien sie noch so geistreich, befanden sich mal in einem Entwicklungszustand, in dem das kindliche Gehirn keinerlei Unterschied zwischen Konkretem und Abstraktem machte. Es gab einen Zeitpunkt in ihrem Leben, in dem das Greifen des Balles die größtmögliche Errungenschaft und die größtmögliche Erkenntnis gleichermaßen war.

Schon jetzt freut sich die graue Masse, die unsere Daumen kontrolliert, über einen evolutionären Karrieresprung.

Konkrete motorische Erfahrungen und vielfältige Sinnesreize sind nötig, um die Entwicklung nachgeordneter Systeme im Gehirn anzuschubsen. Das Genie aus dem Keller ist in etwa so wie der kerngesunde Kettenraucher – eine absolute Ausnahme, wenn kein Märchen. Menschenkinder brauchen die sinnliche Stimulation durch Umgebungsreize nicht nur, um die gegenständliche Umwelt zu begreifen, sondern um die Fähigkeit des Begreifens überhaupt zu entwickeln. Aber was ist mit Kreativität? Kann man über digitales Erleben »echte« Erfahrungen machen? Wiegen wir uns in Sicherheit, weil es erst die nächste Generation ist, die versucht Fische von der Aquarienwand zu wischen? Der präfrontale Cortex, der entwicklunsgeschichtlich jüngste Teil unseres Gehirns, ist mit dafür verantwortlich, dass wir erst mit 18 erwachsen sind und nicht mit der Geschlechtsreife. Seine Entwicklung ist erst mit ungefähr 20 Jahren abgeschlossen. Sie wird – einigen Studien zufolge – durch die übermäßige Nutzung digitaler Medien beeinträchtigt. Denn digitale Medien sind wie ein unendlich langer Schokoriegel fürs Gehirn. Das interne Belohnungssystem kann dabei so dauerhaft aktiviert werden, dass es die weitere Entwicklung beeinflusst. Natur kennt kein gut oder schlecht. Schon jetzt freut sich die graue Masse, die unsere Daumen kontrolliert, über einen evolutionären Karrieresprung. Ein kleinerer präfrontaler Cortex wird assoziiert mit: schlechte Impulskontrolle, weniger planvolles Handeln, weniger Empathie, geringere Aufmerksamkeitsspanne.
Über die Neuroplastizität von erwachsenen menschlichen Gehirnen wissen wir noch viel zu wenig, um Aussagen darüber zu treffen, was es bedeutet, einen Großteil seines Lebens auf flackernde Bildschirme zu schauen und nur die Finger zu bewegen. Noch weniger, was es mit unserer Kreativität macht.

In einer theoretischen Zukunft, in der die meisten jungen Erwachsenen zwar eine unvorstellbare Masse visueller Reize verarbeiten können, aber dabei die Aufmerksamkeitsspanne eines Hundewelpen besitzen.

Es ist eine schöne Vorstellung, dass irgendwann mal ein grob behauener Baumstamm der Hit jeder Kunstmesse ist, weil sein Erschaffer sich auf das unbequeme Terrain der nicht-digitalen Welt wagt. Weil er nicht Verletzungsgefahr noch Mühe scheut, um inmitten schwebender High Tech Bilder etwas völlig Fremdes zu stellen. In einer theoretischen Zukunft, in der die meisten jungen Erwachsenen zwar eine unvorstellbare Masse visueller Reize verarbeiten können, aber dabei die Aufmerksamkeitsspanne eines Hundewelpen besitzen.

Wenn man die Preisträgerlisten der letzten Jahre durchliest, könnte man denken, ein Kunststudent muss schon extrem verbohrt sein um wirklich weiter zu malen/zu bauen/zu gießen. Niemand kann erwarten, dass das Gehirn des durchschnittlichen Jury-Mitglieds anders funktioniert als das des durchschnittlichen Menschen.
Man könnte meinen, das Geheimrezept für ein preisgekröntes Kunstwerk ist ungefähr dasselbe wie für das meistverkaufte Kinderspielzeug: es flackert, es blinkt, es bewegt sich, es besteht aus mindestens fünf verschiedenen Einzelteilen, die man in jeweils maximal fünf Sekunden erfassen kann. Wenn es dann noch zum Jahresthema passt, hat man im Sinne des Erfolges schon eine Menge richtig gemacht. Soviel zum Erfolg.

Doch was ist mit der Meisterschaft?

Das große Glück, mehr noch, das Heilsversprechen der Zeitgenössischen Kunst ist, dass sie gerade nicht der linearen Entwicklung von Industrie und Wirtschaft folgen muss. Im Gegensatz zur harten Selektion durch Wirtschaftlichkeit existieren in der Kunst ganze Zeitalter nebeneinander; Weil es zum Wesen der Kunst gehört, dass sie nicht dem klassischen Muster von Wirtschaftlichkeit folgt. Es gibt nach wie vor Künstler, die mit geradezu archaischen Ausdrucksmitteln extrem erfolgreich sind (Marlene Dumas, Katharina Grosse). Und es gibt Künstler, die an der Speerspitze der Forschung partizipieren, ihre Karriere auf Visual Reality, Cyborgs und Netzkunst aufbauen. Und vor ihrem unterschiedlichen Publikum sind sie alle gleichwertig. Natürlich gibt es Moden, und die Gremien und Jurys der Kunstwelt sind ihnen erlegen. Deswegen sind die Underdogs, die inoffiziellen Ausstellungen – ja, auch die Folklore - und die verkannten, erfolglosen, verschrobenen Künstler so wichtig. Deswegen braucht eine offene, eine reflektierte Gesellschaft Tausende Künstler, und nicht die zehn, die mit Preisen ausgezeichnet werden.

Kein Kleinunternehmen kann aus purem Interesse am Handwerk Holzräder schnitzen.

Die Diversität und non-linare Entwicklung von Kunst insgesamt, aber auch vom einzelnen Künstler, ist ihr herausragendes Feature, ihr Alleinstellungsmerkmal.
Weder ein Astronaut auf individueller noch die NASA auf institutioneller Ebene hat die Entscheidungsgewalt, plötzlich zu beschließen, nicht ins All zu fliegen sondern ihre Zeit lieber dem Studium von Insekten zu widmen. Kein Kleinunternehmen kann aus purem Interesse am Handwerk Holzräder schnitzen. Ein Künstler aber kann sein Interessenfeld, sein Medium und seine Arbeitsweise zu jeder Zeit radikal hinterfragen und ändern. Und deswegen finde ich, auch wenn verwaiste Werkstätten traurig aussehen oder die Frage aufkommt, ob man dem Steuerzahler diese Verschwendung zumuten darf – solange ein einzelner Student sich dann und wann unsicher oder schlicht depressiv vom Mac Book abwendet und Trost in der Berührung kühlen Metalls sucht, lohnt sie sich. Vielleicht schließt sich ein Kreis, wo einst Klöster Hort des neuen Wissens und der Forschung waren, so werden Universitäten heute zu Klöstern, die für die Suchenden nicht nur altes Wissen hüten, sondern auch Erfahrungen.

Erst in den letzten Jahren zogen Teile der Ulster University nach und nach zurück in die Innenstadt, nachdem sie während der Jahrzehnte des Bürgerkriegs in die weniger betroffenen Vororte verlegt worden waren. Neben dem Coffee Shop des brandneuen Fakultätsgebäudes der School of Art liegt ein Show Room, der von den Kunst- und Designstudenten betrieben wird.
Hier kann man neben Schmuck und Keramik auch kleinere Kunstwerke, vor allem Druckgrafik und kleine Plastiken kaufen. Ich kaufe eine weiße Möwe aus ebenmäßig glasierter Keramik, auf deren Körper der Abdruck von Spitze zu sehen ist. Was soll ich sagen – sie gewinnt keinen Blumentopf auf einer Kunstmesse - aber ich mag es, sie anzufassen.

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